Vor dem Fenster spielen die Kinder, kleine Kinder in bunter Spielkluft, sie spielen anders als die Figuren auf Brueghels Gemälde. Sie sehen auch völlig anders aus. Im Begleittext zu dem Gemälde „Kinderspiele“ steht, es fehle die Ausgelassenheit und Sorglosigkeit, mit der man die Kindheit und das Verhalten der Kinder im Spiel heute verbinde, auch sähen die Kinder bei Brueghel aus wie kleine Erwachsene. Ihre Züge sind bereits eingerastet, sind ausgeprägt zu Charakteren, wirken geschnitzt und hölzern. Als ich mir das Bild noch einmal ansehe, kommt es mir vor, als sähen die Personen darauf nicht nur aus wie kleine Erwachsene- sie sind es. Der Titel des Bildes heißt „Kinderspiele“, was nicht besagt, dass es Kinder sind, die spielen, vielmehr weist es auf die Darstellung der zu Brueghels Zeit bekannten Spiele von Kindern hin. Einige davon werden immer noch gespielt, andere nicht. Niemand bläst mehr Schweineblasen auf, aber Fangen oder mit Bällen gespielt wird nach wie vor. Das Aussehen der Brueghel-Kinder im Vergleich zu den heutigen Kindern und den verbreiteten Bildern von ihnen fällt auf. Heute sind die Kinder weich und zart, wenn sie abgebildet werden sind sie oft von einem milchigen Filter überzogen. Was auch daher rührt, dass die Erwachsenen die Kindheit als etwas immer Schönes, Harmloses, Blühendes betrachten wollen und sie dementsprechend inszenieren.

Das Konzept der Kindheit als einer von den Erwachsenen und ihrem ernsten pflichtbewussten Leben abgetrennten und beschützten eigenen Welt, von der alles Unbequeme Unwägbare Ernste abgehalten werden muss, ist ein modernes, das zu Brueghels Zeit noch kaum bekannt war.

Womöglich wurden die Kinder damals, das Bild ist auf 1560 datiert, in gewisser Hinsicht als kleine Erwachsene gesehen. Das Spielen und sich Austoben wurde ihnen auch damals gewährt, wurde ihnen womöglich sogar viel uneingeschränkter gewährt als heute, wo sie eher in Strukturen eingegliedert werden. Doch wurden die Kinder damals noch nicht als eine eigene Gattung Mensch gesehen, die in ihrer eigenen Welt lebt, in einer allerdings von den Erwachsenen entworfenen und ausstaffierten Welt, gepunktet, hell und flimmernd weich.

Im Begleittext zu dem Gemälde wird die Kleidung der Kinderfiguren bei Brueghel beschrieben als braun, gedeckt, praktisch, wie die der Erwachsenen. Die Figuren tragen lange Glockenröcke und Schürzen, tragen Hauben, wie sie Bäuerinnen und Mägde bei der Arbeit trugen, sie tragen Westen und Hüte, klobige Schuhe und Beutel, sie tragen insgesamt eher Arbeitsgewand, das zum Spielen nicht unbedingt tauglich ist, weil es die Bewegungen einschränkt.

Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich kleine Kinder, die auch wirklich als solche gekennzeichnet sind durch die grellen Farbtöne ihrer Kleidung. Am Morgen treten sie brav in Zweierreihen von Erzieherinnen flankiert vor den Kindergarten, allesamt in fluoreszierend gelben Warnwesten über pinken und blauen Schneeanzügen, die mit Reflektorstreifen ausgestattet sind, sowohl die Warnwesten als auch die Privatanzüge der Kinder sind mit Reflektoren versehen. Die Schneeanzüge sind gepolstert und so wackeln und fallen die kleinen Körper dick eingehüllt über die Wiesenfläche, die Kinder selbst sind kaum zu sehen, nur zu hören. Die Gesichter liegen frei und stoßen spitze helle klirrende Schreie aus, sie wimmeln durcheinander, versammeln sich in kleinen Gruppen, werfen sich gegenseitig um oder fallen von alleine. Bei Brueghel gab es noch keine speziell designte Kinderkleidung. Die Körper dieser kleinen Leute sind in die gleichen groben schweren Stoffe eingehüllt wie die arbeitenden großen Personen. Einige Mädchen auf dem Bild haben leuchtend blaue Decken über den Kopf gehängt. Natürlich war die Kleidung wohl an die Kinderkörper und ihre Dimensionen angepasst oder wurde eben zurechtgeschnitten für diese. Doch haben die Erwachsenen keine Ästhetik erfunden, in der sie glaubten die Kinder wohlig und sicher einhüllen zu müssen. Es gab vermutlich noch nicht das Konzept der Kindheit, das sich heute ausdrückt in den über-blümten überfärbten Kindersachen, die entweder schrill, bunt und laut oder blumig, zart, romantisch, verspielt und lieblich aussehen. Manchen Kindern gefällt das, anderen wird es übergestülpt.

Da es Kinder sind und sie noch nichts Anderes kennen als das, was ihnen angetragen wird, nehmen sie es an, da es von den Eltern kommt und sie diese als übermächtige Schutzpersonen erleben. Also erleben sie auch das ihnen Vermittelte als wohlwollend Gegebenes und also Wünschenswertes, Normales. Sie haben keine Möglichkeit etwas zu äußern gegen das, was von ihnen als Kindern verlangt wird. Auch wenn es ihnen dem Wesen nach vielleicht gar nicht entspricht. Sie müssen in einer ausgelassenen lauten Weise spielen, sie müssen schreien, sie müssen gern grellbunte Sachen tragen, wenn ihre Eltern der Meinung sind, dass man sich als Kind gerne bunt anzieht- so sieht es jedenfalls aus, wenn ich aus dem Fenster schaue, denn ausnahmslos alle Kinder tragen diese bunten Schneeanzüge und tatsächlich sind auch so gut wie alle Schneeanzüge pink oder blau (ob jeweils Mädchen oder Jungen darin stecken weiß ich nicht). Die Anzüge, Mützen, Schuhe und Ranzen sind mit Autos oder kleinen Feenapplikationen, Sternchen oder anderen lieblichen Symbolen verziert.

Bei Brueghel geht es weniger darum eine bestimmte Idee von Kindheit darzustellen, eine Welt der Kindheit als Konzept auszuformulieren und die Kinder hineinzustellen und sie zu bewundern, wie das heute gerne getan wird. Sondern es geht eher um das Darstellen und Dokumentieren der Spiele, die sich offenbar schon seit Jahrhunderten forttragen und wiederholen, sich wandeln, erneuern und vergessen werden. Oder nicht mehr gespielt werden, weil das Instrumentarium verschwindet, die Objektwelt eine andere wird. Schon lange, beinahe schon immer, gab es das Spiel mit Bällen, das Huckepack tragen, das reine sich Bewegen, Laufen und Turnen, Räder schlagen, das Fliegen lassen der Röcke – wobei Letzteres im Winter durch die Schneeanzüge unterbunden wird. Es gibt aber auch Spielgeräte, die zwar noch vorhanden sind, deren Einsatz jedoch verändert wurde mit der Zeit. Im Vordergrund von Brueghels Gemälde sind zwei Personen zu sehen, die große Reifen mit Stöcken antreiben, sodass die Reifen schnell dahinrollen und die Herausforderung darin besteht, die Reifen durch leichte geschickte Stöße mit den Stöcken immer weiter rollen und nicht umfallen zu lassen. Solche Reifen gibt es immer noch, nur wurden sie später ganz anders verwendet. Was wir als Kinder damit taten und was auch Kinder wie Erwachsene immer noch tun heißt Hula-Hoop. Die Reifen sind inzwischen aus leichtem Plastik und man lässt sie um die Hüften kreisen. Sie erfüllen nicht mehr nur den zwecklosen Zweck des Spiels, sondern werden in Fitnesskursen eingesetzt, um den Körper zu formen, man betreibt mit ihnen Bodyshaping. Ich vermute das kam von der Aerobic Bewegung der achtziger Jahre, es wurde also das Spiel mit einer Funktion verbunden, wurde zur Optimierung des eigenen Körpers eingesetzt.

Aber hat sich das Spielen der Kinder als solches verändert? Wenn ich die Kinder vor dem Fenster spielen sehe, scheint es zuweilen, dass sich wenig verändert hat. Außer, dass es bei Brueghel keine Fahrräder gab, während dieselben heute hochgerüstet mit dicken profilierten Reifen versehen und wiederum in Pink mit Schmetterlingen von ihrer eigentlichen Funktion visuell weit entfernt sind. Im draußen Spielen aber ist es nach wie vor nicht viel, was sie brauchen, um sich zu vergnügen und auszutoben. Eigentlich haben sie sogar weniger Spielzeug dabei als bei Brueghel. Das mag daran liegen, dass es eine schärfere Trennung zwischen Innenraum und Außenraum gibt, obwohl sich diese Trennung zwischen innen und außen in der Architektur schon lange aufgelöst hat. Es reicht den Kindern auch heute stundenlang schreiend hin und her zu laufen. (Wobei ich mir nicht sicher bin, ob das tatsächlich schon immer so war und ob es sich nicht doch um Verzweiflungsschreie handelt.)

Bei dem Spielplatz vor dem Fenster handelt es sich nicht um einen von Spielgeräten zugestellten, solche gibt es ja auch. Dieser ist klassisch, so wie ich ihn auch aus eigener Erfahrung kenne, eine weite Wiesenfläche öffnet sich vor dem modernen von Holzlatten und großen Glasscheiben verkleideten Kindergartengebäude, das die erwähnte architektonische Auflösung der Grenze zwischen innen und außen in seiner Erscheinung sichtbar werden lässt. Gelegentlich werden die Kinder, die in den Räumen des oberen Geschosses im Innenraum spielen, durch das gläserne Schiebefenster auf den Balkon gelassen, wo sie dann zehn bis zwanzig Minuten lang schreiend auf der langen schmalen Betonplatte hin und her rennen, bis sie wieder in den Innenraum geholt werden. Draußen auf der Rasenfläche gibt es eine Seilbahn, was früher auf den Spielplätzen immer ein Highlight war, für mich jedenfalls. Nur waren solche Einrichtungen auf den Spielplätzen, die ich besuchte, meistens innerhalb kurzer Zeit kaputt und man konnte nicht damit fahren, es hing nur noch die Kette da, weil jemand den Sitz zerstört hatte und er ausgetauscht werden musste oder es hing gar nichts mehr da und die Pfosten, mit dem nutzlos gespannten Seil, erinnerten an etwas, auf das man sich gefreut hatte und nun nicht tun konnte. Die Seilbahn hier ist gut in Schuss und oft hängen drei Kinder übereinandergestapelt oder ineinander verwickelt an dem Sitz und rasen kreischend über die braune Pfütze hinweg, die sich darunter sammelt. Es gibt außerdem eine leicht gewellte Rutsche zu der man in einem Holzturm hinaufsteigt und etwas versteckt hinter Büschen eine Schaukel und ein oder zwei Wackeltiere, die ich vom Fenster aus nicht sehe. Das war es schon an Spielgerät, ansonsten eben die weitläufige Wiesenfläche, die Platz zum Laufen bietet, Bäume unter denen sich häufig kleine konspirative Gruppen in leuchtenden Westen versammeln und etwas Geheimes besprechen. Immer wieder löst ein einzelnes Kind sich aus einem der Spielverbände und torkelt in sich selbst versunken allein über die Wiese, die Warnweste leuchtet vor dem braungrünen Boden, es schaut und spricht leise mit sich selbst und lässt sich in den Schlamm fallen, so kommt die Funktion seiner schnee-und regenfesten Kleidung wenigstens zum Einsatz.

Die Grundstrukturen der Spiele oder des Spielens an sich haben sich erstaunlich wenig verändert, sie werden jedoch vermutlich konterkariert von dem, was sich in den Kinderzimmern und Innenräumen des Kindergartens abspielt, was ich von hier aus nicht sehe. Nämlich Spielzeug, das sich seit Brueghels Zeit sehr wohl verändert hat und in dem sich neben der Kinderkleidung, dem Kinderbesteck, den Kinderpflegeprodukten und Nahrungsmitteln wohl das ausdrückt, was sich die Erwachsenen ausdenken und dabei glauben sich an ihre eigene Kindheit zu erinnern. Oder eben was aus dem Spieltrieb von erwachsenen Spieleentwicklern und Geschäftsleuten entwickelt wird, um die Kaufkraft der Kinder und ihrer Eltern für sich zu nutzen.

Das Phänomen des Spielens wird von Brueghel in seinem Gemälde „Kinderspiele“ untersucht. Er erstellt einen Atlas der bekannten Spiele, die teilweise ein Erproben von Vorgängen sind, die später im Erwachsenenleben mit Zweckmäßigkeit verbunden zum Überleben eingesetzt werden. Etwa Kaufladen spielen, aber vielleicht auch Huckepack, eine Frühform des Sanitäterseins. Seltsam ist, dass die von ihm gemalten Figuren nicht das Kindliche an den Tag legen, das sonst auf Darstellungen von Kindern, in den Gesichtern, in der Feinheit der Züge und Blicke sich ausdrückt. Von dem Brueghel-Bild geht etwas Unheimliches beinahe Düsteres aus, während die Kinder hier vor dem Fenster äußert sorglos und ausgelassen sind, in der reinen Harmlosigkeit und harmlosen Reinheit ihrer Kindheit versunken, die ihnen von den Erwachsenen als Schutzraum geboten und in Form der Schneeanzüge angezogen wird. Bei Brueghel wird eine Nähe zur Erwachsenenwelt betont oder die Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen gar nicht erst gezogen, gerade in der Ernsthaftigkeit des Spiels, indem gewisse Vorgänge und praktische Fähigkeiten spielerisch erprobt werden. Es wird zwar gesagt, geschrieben und gedacht, dass das Spielen immer ein solches Erproben von Vorgängen und sozialen Verhaltensweisen ist, die später in der Gesellschaft, in der Arbeitswelt gebraucht werden, doch sieht es heute weniger danach aus. Es ist eher ein sorgloses sich dem Unsinn hingeben, ein im Kreis laufen, Schreien und Fallen. Eine ausgedehnte Feier des Zwecklosen, so lange das noch geht, so lange es einem nicht vorgeworfen oder als Verrücktheit angerechnet wird, so lange man eben Kind ist und tun kann was man will. Schon in dem Wissen, dass man sich später einzuordnen und zu fügen hat, in das Bild der Normalität, das andererseits aber immer mehr an das Kindliche erinnert. Eigentlich schreien ja auch die Erwachsenen gerne herum oder drehen ersatzweise die Lautsprecher ihrer digitalen Geräte in der Öffentlichkeit soweit auf, dass alle anderen mithören müssen, was ihnen entweder egal ist oder ihnen eine gewisse Befriedigung gibt, weil sie damit ihr in der Welt Sein demonstrieren können. Es fällt ihnen offenbar kein Mittel ein, dies zu tun, sich etwa im Gespräch mitzuteilen. Sie wehren sich dagegen, sie betäuben sich mit den Geräten die unaufhörlich zu ihnen sprechen, sodass sie ihr eigenes Dasein nicht mehr spüren, was ihnen offenbar wohltut.

Bei den Kindern draußen vor dem Fenster geht es eher um ein effektives Abbauen des Bewegungsdrangs und ihr Rennen, Fallen und Schreien ist keinem Zweck mehr verbunden, weil die Kindheit heute ein rein zweckloses Dasein sein soll und die Kleinen schützen soll vor der Erwachsenenwelt, in die sie irgendwann ziemlich unvorbereitet hinübertreten und worin sie von dem Effektivitätszwang entweder allzu schnell eingenommen werden und sich darin zurecht finden, sich anpassen und mitmachen oder davon erschlagen und verschlungen werden. Wobei es natürlich Auswege gibt: weiter spielen, so wie die Erwachsenen-Kinder es auf Brueghels Gemälde tun, in einem heiligen Ernst sich den Beschäftigungen hingeben, die zwar keinem offensichtlichen Zweck zulaufen, die aber ein ewiges Proben sind, ein Spiel und damit eine Freiheit erlauben, die sich dem Schönen, dem Anderen öffnet.

März 2020, Myriam Khouri