donnerstag, 15.11.18
ein monat bereits vergangen, die ankunft schon vergangenheit, vieles neue bekommt das gesicht des bekannten; so ein schönes gefühl. darin auch: das aufblitzen von gesammelten bildern, visuellen versatzstücken, die sich in mir festsetzen, ohne dass ich genau wüsste, warum. das hotel toleranz etwa. in jenbach steht es, im nächsten ort also, schon richtung achensee, die museale zahnradbahn dort immer noch im betrieb, die seltsame melancholie der jahrhundertwende ausspuckend, kohlegeheizt, die lautstärke ohrenbetäubend, die touristen verschreckt auf den holzbänken, das dünne der alten zeit am eigenen körper spürbar, am bahnhof selbst vereinzelt plakate aus der jugendstilzeit, aus den glanzzeiten des österreichischen, aus musils kakanien, das sich an diesem ort sicherlich wohlgefühlt hätte.
erhaben und verfallen gleichermaßen, dieses hotel mit dem wunderbaren namen, so denke ich, und als ich am ersten tag vom bahnhof abgeholt werde, fällt mir das große gebäude ins auge, förmlich, weitet es, ob seiner aus der zeit gefallenheit, den großen hölzernen balkonen und einer zugewandtheit, ohne diese genauer bezeichnen zu können. und willi sagt, dass es ein altes hotel sei, ein leerstand, und dass im hinteren teil geflüchtete untergebracht seien oder waren, und ich denke, was für ein zufall, der name und die neue funktion des hauses, dass das gut passen würde, vermeintlich (leider) entgegen musils ausführungen in seinem aufsatz fragen der zeit, passend zu den anfangszeiten des hotels, etwa 1913, und lese also
»Politik in Österreich hat noch keinen menschlichen Zweck, sondern nur österreichische. Man wird kein Ich durch sie, obwohl man alles andere mit ihrer Hilfe werden kann, und kein Ich vermag sich in ihr zu manifestieren.«
und gesternnachmittag sitze ich bei franziska hier im haus auf einen tee, und sie hat alte bildbände von schwaz und sie erzählt von den 30er, von den 40er jahren, und von schwazer originalen wie dem pfunder franz, der immer barfuß gegangen sei und begehrter statist in den filmen von luis trenker war, und ich schüttel wieder leise mit meinem kopf, und wenn man aber seine bilder sieht, dann versteht man sofort warum, so etwas unverwüstliches steckt in seinem bart, so etwas direktkühnes in seinem blick, in all dem schwarzweißen, das seine falten in gesichtslandschaften wirft, selbst dann, als er am zugefrorenen inn eisblöcke aussticht, um bier zu kühlen, und ich schüttel wieder leise mit dem kopf,
und wir blättern weiter, und ich stolpere über ein altes bild von eben jenem hotel und lese in der kleinen bildunterschrift, dass der name des hotels auf das toleranzpatent 1781 von josef II zurückgeht, auf die idee einer freien religionsausübung für jede*n, und natürlich waren damals (wie heute) nicht alle mit dieser idee einverstanden, und trotzdem hat sie sich durchgesetzt, auch in jenbach, und weil der damalige befürwortende kommunalpolitiker auch hotelbesitzer war, und so glücklich über die änderung, diesem versuch einer neuen ära, die der katholischen kirche zwar immer noch ein vorrecht einräumte, aber auch einen raum, einen tatsächlichen raum für minderheiten formulierte, nannte er sein hotel nach diesem edikt: hotel toleranz.
so ein großer wunderbarer bau. selbst in seiner verfallenheit. gerade auch mit diesem namen, mit dieser geschichte. weniger mit seiner zukunft, die abriss bedeutet, ein brachiales verschwinden. von der oberfläche, aus der geschichte. zugunsten eines parkplatzes, einer tiefgarage.
»Im gegenwärtigen Zustand freilich überwiegt jedenfalls der Mangel an Sinn und sie vertreiben sich die Wartezeit mit Lärmen.«
(Robert Musil, Fragen der Zeit, 1913)