In das Bäckerei-Café eingekehrt, nach dem Besuch der Galerie der Stadt Schwaz. Ich gehe häufig diese Altstadtstraße entlang, manchmal ist sie menschenleer. Am Ende steht die große Kirche, die von vielen Stellen im Ort aus sichtbar ist, vom Waldweg aus gesehen, hebt sich die Fläche ihres grünen Dachs von tiefer liegenden Dächern ab. Auf der anderen Straßenseite ist ein bogenförmiges Steintor dunkel in die Wand gebrochen, eine gläserne Tür öffnet sich von alleine als ich mich auf sie zubewege, ein Klappschild davor mit dem Ausstellungstitel. In dem erstaunlich breiten Treppenhaus stehen zwei steinerne Statuen, es ist ein sonderbar stumpfgrauer Stein. Ich steige weiter und sehe durch zwei hohe vergitterte Fenster im ersten Stock helle Innenräume. An den Wänden hängen Bilderrahmen mit kleinen Fotos, auf denen sich Szenen konzentrieren – das weiß ich, weil ich sie vorher schon im Internet sah.  Eine Tür mit zwei Flügeln hoch und hölzern, die verschlossen wirkt. Sie lädt mich nicht ein, sie zu öffnen, stattdessen klingle ich an einer freundlicher wirkenden Tür in Weiß, auch weil ein Klingelschalter daneben ist und neben der anderen Tür nicht. Es öffnet eine junge Frau in hellrosa oder hellblauem Pulli, hinter ihr dehnt sich ein großzügiger Wohnraum mit ausgeklapptem Wäscheständer und großen Fenstern in die Fußgängerzone aus, vermutlich Erkerfenster. Sie begrüßt mich freundlich, beinahe erfreut. Oh, Entschuldigung sage ich, ich wollte zur Galerie. Sie wisse auch nicht, wie man da hineinkommt, sagt sie und scheint von den edlen schweren Toren ebenso verschreckt wie ich. Als sie ihre Tür geschlossen hat, ziehe ich eines der beiden Tore einfach auf und trete ein, ich muss immer noch lachen, beim Gedanken daran, dass ich an der falschen Tür geklingelt habe. In einem langen hell erleuchteten Raum sitzt mittig ein biegsamer junger Mann in Karohemd an einem silberweißen Computerbildschirm. Ich gehe langsam durch die Räume und sehe mir nach einander die Fotos an, jedes Einzelne in seinem hellen Sarg.

Es sind ganz gewöhnliche Fotoabzüge im Format 10 x 15, vermute ich, sie zeigen Szenen in vollgestellten Zimmern aus den 00er Jahren oder späten neunziger Jahren. Die Gegenstände, Kleider, Frisuren, Blicke, die Etiketten und Schriftzüge einiger sichtbarer Produkte lassen sich diesen zwei Jahrzehnten zuordnen. Eine Reihe von Pringles-Säulen neben einer Sofalehne, braune Bierflaschen unter den Hälsen abgeschnitten. Eine junge dünne Frau liegt nackt auf einem Sofa mit geschmackloser Bespannung, ich weiß nicht ob diese Art der Sofapolsterumhüllung jemals jemandem gefallen hat. Sie (die Bespannung) erinnert mich an Prag, ausrangierte Sofas als Einrichtung der Hotelzimmer in einem sozialistischen Wohnriegel. Dieses ist einfach ein Zimmer aus den 90er Jahren oder etwas später, das Sofa ist genau so lang wie die Frau und nimmt auch in der Breite ihren Körper passgenau auf. Die Glieder wirken glatt und zart, die Körperhülle ist gefüllt, dünn aber nicht mager. Kleider sind nicht sichtbar auf dem Bild auch nicht in leerer Form, ausgezogen, abgelegt um das Sofa verstreut oder auf einem Hocker gefaltet. Es sieht aus als habe sie keine, habe nie welche gehabt. Auf vielen Bildern funkeln die Augen. Das Grün der Pflanzen ist giftig, sie ragen vom Rand aus in das Bild hinein, wie ein kleiner Urwald, der nicht zu dem drückend braunen Interieur passt. Die Fotos sind nicht so gewöhnlich wie sie tun, sind mit Bedacht komponiert und ausgewählt – oder gerade nicht und dieser Eindruck entsteht durch Zufall, soll gerade entstehen. Nein, ausgewählt sind sie schon, auch wenn es viele sind und die Szenen sich ein bisschen wiederholen. Durch die Glasrahmen, in denen sie liegen wie in Schatullen wirken sie erlesener, präziser, entwickeln eine Sprache oder die Sprache entwickelt sich beim Anschauen im Kopf, in diesem Fall in meinem, weil vieles, das auf den Fotos festgehalten ist, schon gesehen wurde, an Bekanntes aus einem noch nicht so lange vergangenen Alltag erinnert und hier durch die edle Rahmung überspitzt wirkt, künstlich zu einer Kostbarkeit gemacht.

Die Räume der Galerie sind groß und schön. Drei steinerne abgetretene Treppenstufen führen zu einer Empore hinauf, ein breites Fenster gibt die Sicht frei auf die hohe Kirche Maria Himmelfahrt, ein Dröhnen von Musik erfüllt den Ausstellungsraum.

Als ich später auf die Straße trete, bemerke ich, dass es der Kirchenkörper ist, der vibriert von Orgelmusik.

Ich gehe ins Bäckereicafé und notiere: Corona-Virus vor Tirols Grenze (Zeitungsüberschrift)

An einem Tisch sitzt eine große Gruppe Dänen oder Holländer mit Bierflaschen und leeren Tellern, ich höre: nee nee nee. Denke an die Beuys Installation im Museum für Moderne Kunst in FFM, ich weiß nicht ob sie noch da ist.

Die Flocken sind inzwischen gewachsen, das Panoramafenster wirft mich in die Fußgängerzone.

Die Fotos in der Galerie schlafen und sterben in ihren Schatullen, alte Monitore grau und groß, ein Fernseher mit Sat1 Bällchen auf dem Bildschirm oben rechts.

Ein großer Schneepflug fährt vorbei, eine Frau mit langem Samtrock und Strabag Rucksack betritt die Bäckerei, ich habe sie heute schon drei Mal gesehen, sie schüttelt ihr langes blondes Haar, Schnee fällt heraus und schmilzt auf dem Boden, ihre Jacke hat die gleiche Farbe wie mein Notizbuch, schimmerndes Rot und übrigens auch wie die Vorhänge in der Wohnung, durch die am Morgen blutiges Licht fliesst.

Das Dröhnen der Orgelmusik klingt wie Techno im Ausstellungsraum.

Die Fotos aufgefressen von Urwald, giftig grün. Auch ich habe heute Wäsche gewaschen, denke ich, nachdem ich den aufgespannten Wäscheständer in der fremden Wohnung gesehen habe, an deren Tür ich ausversehen klingelte.

Die Körper tragen Flocken.

Die Holländer gehen in Funktionskleidung vor die Tür und dehnen sich. Sie müssen lange gesessen haben oder sind es Dänen?

Myriam Khouri, 30.01.2020