Einer der letzten Spaziergänge in Schwaz. Am frühen Abend, als es noch hell ist, gehe ich aus dem Kloster heraus – wie immer schwingt die automatische Glastür erfreut auf, als sie wahrnimmt, dass jemand unter ihrem Sensor hindurchgeht. Auf dem Vorplatz sitzt womöglich die Frau mit dem roten Haar und raucht, begleitet von einer Pflegerin und wenn sie dort sitzt, grüßen wir uns. Ich biege um die Ecke und gehe die steile Straße, die vor dem Kloster und auch vor meinem Fenster vorbeiführt, hinauf. Ihr fehlt ein Gehweg, das bekomme ich zu spüren, indem die Autos sich mit ihren aufgeblähten Karossen dicht an mir vorbeidrängen, ich drücke mich an die schroffen Steine, von denen das Kloster im unteren Fassadenbereich ummauert ist. Erleichtert biege ich bald wieder ab, nach rechts, am oberen Ende der Straße, sie grenzt auch an einen Spielplatz, der sich dehnt und streckt mit Seilbahn und Schaukel, von Kindern in leuchtenden Westen am Morgen besetzt und gegen Abend manchmal von Jugendlichen, die blökend Seilbahn fahren. Einmal knarrten Skateboards über die flachen Holzstufen vor dem Kindergarten- es war an einem der ersten Tage in Schwaz, das Sonnenlicht sank gelbrot nieder vor dem noch früh hereinbrechenden Abend. Inzwischen ist Frühling oder Vorfrühling. Ich bin abgebogen auf den schmalen Pfad, der über eine Wiese vor der Klosterkirche führt. Der Kirchenbau ist groß und lang, ihr dunkler Zwiebelturm ist von hoch oben im Gebirge aus zu sehen. Das goldumstrahlte Mosaik auf ihrer Stirn zeigt einen Franziskanermönch, der seine Arme ausbreitet zu geheimer Geste. Außen ist sie strahlend weiß, innen wirkt sie düster barock. Auf dem Wiesenstück, etwas erhöht die zwei Gestalten, die ich hier immer sehe, wenn ich von unten aus der Innenstadt oder von oben aus den Bergen komme. Sie sind gegossen aus Messing, angedunkelt abgeschabt, sodass die Stoffe ihrer Kleider und Umhüllungen funkeln. Eine Gestalt liegt gebückt auf Knien unter einem schweren Umhang, die andere schreitet munter voran, trägt praktische Kleidung, vielleicht Arbeitskleidung und ein Kreuz auf der Schulter, das beinahe so groß ist wie sie, das Gesicht ist unter einem großen Schlapphut verborgen. Pflänzchen umstehen sie freundlich. Erste Krokusse öffnen ihre Zungenkörbe in Gelb und Tieflila. Gegenüber klafft die Mariengrotte, ihr Interieur ähnelt einer Tropfsteinhöhle, dahinter die steilen Hänge. Ich gehe weiter bergauf, sehe das Hinweisschild zum Wanderweg Burg Freundsberg und sehe sie selbst auf ihrem Kegel thronen, die Gaststätte darin ist nun wieder geöffnet und einmal noch saß ich an einem kleinen Tisch den Rücken an die Burg gelehnt und trank eine Melange mit Blick ins Tal, ins gepuzzelte Tal, aus Bauernhäusern, Mehrfamilienhäusern, Fabriken und Kirchen, durchzogen von dem fein glitzernden Inn.
Den oberen Weg entlang, am Bauernhof vorbei, dessen Tore offenstehen. Der Heugeruch strömt in die Straße, die erst bergauf dann bergab verläuft. Am Rabalderhaus vorbei, dessen Namen ich als Ohrwurm in meinem Kopf hege und pflege, aber ich betrat es nie, weil es winterbedingt geschlossen war und ist. Ein schmaler und niedriger Durchgang zum Ufer des Lahnbachs. Er stürzt von den Bergen, es ist warm geworden, sodass er reichlich Schmelzwasser führt, das klar und kühl in seinem steinernen von Moos und Gras gepolsterten Bett dahinströmt, mehrere Wasserfälle durchteilen den Bach, seine Ufer sind hoch, es gibt zwei Etagen, auf denen man gehen kann. Ich gehe auf der oberen, sie ist weich gepolstert und vereinzelt sind Bänke in den Wall gesteckt. Ich setze mich hin und schaue in einen Garten mit alten Obstbäumen, hohem frischgrünem Gras und Maiglöckchen in Sträußen. Auf einigen Wiesen am Hang blühen ganze Teppiche von Maiglöckchen, fiebrig und weiß über ihren scharfen Blätterkragen. Ich stehe gleich wieder auf, mir ist mehr nach Gehen zumute, das Licht umglockt und umgurrt mich wie ein gold-flirrendes Gewand. Ich gehe aufwärts bis ich an eine Wegbiegung komme, deren einer Arm zum Zintberg hinaufzeigt, ein Hinweisschild für eine Mountainbike-Strecke. Ich setze mich, wieder sehr kurz, auf eine silberne Bank, die aus Metallrohren gebogen um einen Baumstamm herumführt, eine Art Schmuck für den Baum, Silberschmuck, Armreif –
Auf der anderen Seite gehe ich in das Wohngebiet hinein, in dem die Häuser dicht aneinanderhängen. Sie verschränken sich in ihren Bauformen. Es sind moderne Einfamilienhäuser, manche betont eigen, um sich von den anderen abzusetzen, andere luftig und glasig fügen sich leicht in die weiten Wiesenflächen ein, von denen das Wohngebiet an seinen Rändern umgeben ist. Vorne am Lahnbach stehen alte Bauernhäuser in kleinem Format, vielfältig umschnitzt und mit allerhand Spuren, die sich in ihre hölzerne Verschalung eingezeichnet haben. Es ist kein Raum zwischen den Häusern, sie führen hier kein Gespräch über Moden und Zeiten hinweg, wie es die Häuser im Pirchanger tun, diese hier schachteln sich ineinander mit ihren Spitzen und Kanten, fügen sich und stoßen sich ab, wie die Elemente auf einem kubistischen Gemälde. Ich gehe gerne zwischen ihnen herum, schaue in die Vorgärten und auf die architektonischen Details, mit denen sie ausgestattet sind, um individuelle Behausungen zu werden. Manche, es sind dies die alten Exemplare, tragen trommelartige Aufbauten auf ihren Dächern, von winzigen Schindeln besetzt, wie Schuppen, mit einer golden funkelnden Kugel auf der Spitze oder einem Hahn aus Metall.
Als ich das Wohngebiet durchschritten habe, dessen Straßen steil sind, stehe ich an einem offenen Gatter: vor mir breitet sich eine große tiefgrüne Wiese mit langen Halmen aus. Gegenüber das Felsmassiv, das ohne Unterbrechung bis Innsbruck sich erstreckt und sich dort in einer Bergkurve mit der anderen Seite der Felsenkette trifft. Auch in Richtung Kufstein ziehen die Felsen sich fort. Über ihren Kämmen und waagerechten Säumen liegt tiefblau der Himmel, von Abendwärme durchglüht. Es ist ein angenehm kühlweiches Luftgewebe und mein Kopf, meine Gedanken sind umweht von dem Weiten und Offenen, das die Wiese mir bietet. Sie fällt nach unten hin ab und ist seidig, ist leer und unbewandert, niemand steht auf ihr, sie ist frei und voller Gras. Ich stehe lange vor dieser Öffnung und Fläche, ich schaue und will die Empfindungen sammeln, will sie einpacken, auf dass ich sie später wieder entrollen und ausbreiten kann in ihrer Kühle und Offenheit –
(Da weiß ich noch nicht, dass ich schon in wenigen Tagen abreisen werde. Da steht der Plan noch, wie er von Anfang an stand, der dann umgekippt wurde, so abrupt und unerwartet, so unvorhersehbar.)
Hinter der Wiese liegt ein weiteres Wohngebiet, dies sind die Häuser am Hang, sie stehen steil und viele von ihnen sind mit einem gewissen architektonischen Ehrgeiz erbaut, manche wirken beinahe kappellenhaft, luftige lichte Kapellen aus Holz und Glas, sie gefallen mir, nicht alle naturalmente, aber viele. Hinter ihnen beginnt der dichte dunkelgrüne Silberwald mit seinen vielfarbigen Wegen, von Wurzelsystemen durchzogen und aufgestöbert von Gestein, das sich aus dem Boden hebt in schieferfarbenen Brocken, auf der Oberfläche mit Moos bewachsen. Dunkelgrünes Moos von hellgrünen Sternen besetzt. Ich könnte ewig hier stehen und schauen. Wenn ich den steilen Weg hinabgehe, der in Richtung der Hanghäuser führt, komme ich an eine Stelle, die ich schon am Anfang meines Aufenthalts als eine meiner liebsten entdeckt habe. Es ist dies ein kleiner Brunnen zwischen Wiesenhängen, am Fuß des Gebirges. Ein schmales Gewässer fließt glasig von der Felswand herab und sammelt sich in dem Brunnenhahn zu einem feinen Strahl, tropft hell und hohl in das alte Becken aus Holz oder Stein, ich weiß es nicht mehr genau, aber das Licht ist hier elastisch und legt sich um den Körper wie ein seidener Morgenmantel. Vor allem am Abend. Die Quelle liegt gegenüber dem Friedhof und daneben steigt zu beiden Seite die große und freie Wiese auf, vor der ich immer noch stehe. Die Berge umgeben mich prächtig und ich bin erleichtert, ich bin erleichtert, dass es sie gibt, mit Schnee oder ohne. Dass ich ihnen zusehen kann, wie sie ihr Gewand täglich, manchmal stündlich wechseln, mal beschneit, mal aufgelöst und bepudert wie Tüll, mal massiv und hellgrau, mal hinter dichten Nebelschleiern verborgen, die aufreißen und die regelmäßig gesteckten Tannen sehen lassen, ein Gipfel ragt einsam aus der Nebelwolle. Nur sommerlich kenne ich sie noch nicht. Ich werde wiederkommen und ihre Sommerkleider betrachten.
Ich gehe an diesem Abend noch zu der Quelle hinunter, eine kleine Bank steht daneben auf die ich mich nicht setze, gegenüber funkelt St.Martin und dahinter liegt das Stoff- Museum. Hoch oben ziehen sich waagerechte Streifen in die noch weißen Kuppen der Berge, es sind Stirnfalten, errichtet um Lawinen aufzuhalten. Auf dem Rückweg, kurz vor dem Hotel Goldener Löwe, kommt mir ein Herr in Tracht entgegen, er trägt einen Stab mit Trauerflor, schwarze Bänder hängen daran mit eingestickten silbernen Lettern, es ist darauf von „Ruhe“ die Rede –
Es war einer der letzten Spaziergänge, ein Abendspaziergang, bei dem die sechseinhalb Wochen, die ich in Schwaz verbrachte sich in mir sammelten und strömten, in der alles leuchtend und offen vor mir lag, Sekunden in denen ich das Gras und die Berge um mich spürte, sie um mich wickelte und etwas von ihnen mitnahm, als ein Kleid, das mich schützt, in Zukunft, hoffe ich. Es war ein schöner Spaziergang, ganz unerwartet, er geschah spontan und die Zeit in Schwaz war eine der schönsten bisher, ich sagte es immer wieder und die Berge sprachen mir nach.
Myriam Khouri, 24.03.2020